Erinnern als Erlösung: zwei sprachlos machende Familiengeschichten
Beide untrennbar verwoben mit der deutsch-deutschen Geschichte, beide experimentell erzählt und mit der weiblichen Perspektive im Mittelpunkt
Die Gewitterschwimmerin von Franziska Hauser
Erst hat es Jahre gedauert bis ich zum lang gehüteten Roman Die Gewitterschwimmerin von Franziska Hauser gegriffen habe. Und dann konnte ich ihn nicht schnell genug beenden, so fesselnd ist die für den Deutschen Buchpreis 2018 nominierte Geschichte erzählt.
“Warum bin ich geworden, wie ich nicht sein will?” - Dies ist die Ausgangsfrage des Romans, die sich Tamara Hirsch stellt. Sie sieht in ihrer unkonventionellen Art auf ihr Leben zurück und erzählt ihre persönliche Geschichte rückwärts, ausgehend von der Gegenwart, 2011, bis zu ihrer Geburt 1951. Parallel dazu wird die Familiengeschichte der Hirschs chronologisch vorwärts über das 20. Jahrhundert erzählt, beginnend 1889 mit Friedrich, Tamaras Großvater. Was jetzt hier kompliziert klingen mag, erzeugt beim Lesen eine besondere Spannung und ermöglicht es, historische Ereignisse und persönliche Enthüllungen geschickt miteinander zu verweben.
Inhaltlich umspannt der Roman ein Jahrhundert deutscher Zeitgeschichte: zwei Weltkriege, zwei Diktaturen, der Mauerfall - untrennbar verwoben mit dem Schicksal der Familie Hirsch, die in der NS-Zeit verfolgt wurde und im französischen Widerstand gekämpft hat und beim Aufbau der DDR zu den privilegierten Kommunisten gehört hat.
Zentrales Thema des Romans ist die Prägung von Menschen durch ihre Vergangenheit, insbesondere wie extreme historische Umstände Charaktere formen. Es geht um Traumata und sexuellen Missbrauch in der Familie, der sich durch die Generationen zieht. Es geht um die Weitergabe von Schuld, Verletzungen und unverarbeiteten Erlebnissen.
Mit dem Roman Die Gewitterschwimmerin hat Franziska Hauser ihre eigene Familiengeschichte fiktionalisiert ausgegraben und offen gelegt. In einem Interview 2018 mit dem Tagesspiegel erklärt Hauser, dass sie sich bezüglich des Erfolgs von Die Gewitterschwimmerin vor allem für ihre Mutter gefreut habe, “weil sie durch das Buch indirekt Anerkennung bekommen hat. Ich hatte das Gefühl, sie hat sich schuldig gefühlt, weil sie keine so gute Mutter war, aber in dem Buch wird das durch ihre Familiengeschichte teilweise entschuldigt. Das hat sie sehr geheilt.”
Machandel von Regina Scheer
Während des Lesens von der Gewitterschwimmerin musste ich an den Roman Machandel von Regina Scheer denken, der mich ein paar Jahre zuvor ebenso sprachlos gemacht hat. Und was lese ich kurz darauf (Taschenbuch Seite 248)? Dass Tamara für das Prüfungsvorspiel ausgerechnet das Lied vom Machandelboom übt. Die uralte Geschichte vom Machandelbaum, die Regina Scheer in Machandel unter ihre eigene Erzählung gelegt hat. Deshalb muss ich euch unbedingt auch diesen Roman ans Herz legen.
Mit dem Roman Machandel ist Regina Scheer 2014 ein meisterhaftes Debüt gelungen. Wie in Zeitzeugenberichten blicken fünf Ich-Erzähler*innen zurück auf ihre Geschichte, die vom Zweiten Weltkrieg bis zur Wende und darüber hinaus reicht, und eng verwoben ist mit dem Mecklenburgischen Dorf Machandel.
Als die Haupterzählerin Clara auf das nach dem Machandelbaum (= Wacholderbaum) benannte Dorf trifft, startet mit ihrer Dissertation über das plattdeutsche Märchen vom Machandelboom der mystische Teil des Romans.
Min Moder, de mi slacht, / min Vader, de mi att, / min Swester, de Marleenken, / söcht alle mine Beenken, / bind’t se in een syden Dook, / legts ünner den Machandelboom. / Kywitt, kywitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik!
Ebenso wie die Schwester im Märchen die Knochen des ermordeten Bruders einsammelt und seiner gedenkt, gräbt Clara die Erinnerungen an die im Dorf verschwundene Marlene aus. Dabei ist Marlene nicht das einzige Schicksal, das im Buch verhandelt wird. Auf kluge Weise verarbeitet Regina Scheer geschichtliche Themen wie die Ermordung psychisch Kranker im Dritten Reich, den Umgang mit Ostarbeitern, und nicht zuletzt behandelt sie das perfide System der Stasi.
Nicht nur inhaltlich, auch stilistisch ist das Buch eine große Kreation. So greift das letzte Kapitel das erste auf. Der Abschied wird zum Aufbruch. Und das Ende wirkt wie eine Versöhnung mit der Geschichte oder mit dem Leben oder dem, was jetzt ist.
Ich bin persönlich sehr angetan von dem Buch, was auch damit zusammenhängen mag, dass der Teil der DDR-Geschichte auch ein Teil meiner Geschichte ist und mir die Orte des Romans sehr vertraut sind. Denn neben Mecklenburg sind das Straßen und Plätze in Berlin Pankow und Prenzlauer Berg. Deshalb gilt meine Empfehlung auch allen Menschen, die in Prenzlauer Berg oder in der Stargarder Straße, an der Gethsemanekirche oder Bornholmer Straße und Böse Brücke wohnen - ihr müsst das Buch lesen. Und wenn ihr nicht dort lebt, lest das Buch trotzdem.
Auf baldige Buchempfehlungen und happy reading,
Jetzt bin ich doch etwas verwirrt. Tamara Hirsch ist die Protagonistin im Roman „Die Gewitterschwimmerin“ ? Und das zweite Buch ist „Machandel“? Irgendwie hatte ich das Gefühl, es gibt noch ein drittes Buch. Wahrscheinlich, weil schon deine Rezension so spannend und vielumfassend geschrieben ist. Familiengeschichten über Generationen und inkl DDR - das ist ja ganz mein Fall. Danke für die Empfehlung.